Das Tuschezeichen

Das Tuschezeichen

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  • 商品コード 9783442455416

Description


(Short description)
Die Halbchinesin Ruth Young ist in Amerika aufgewachsen. Einzige Verbindung zu ihren chinesischen Wurzeln ist ihre Mutter LuLing, doch diese hat sich in die Welt der Vergangenheit zurückgezogen und sich ihrer Tochter darüber entfremdet. Eines Tages jedoch entdeckt Ruth Aufzeichnungen ihrer Mutter, die ihr eigenes Leben für immer verändern sollen. Ruth taucht ein in die Welt ihrer Vorfahren, und sie erfährt von dem tragischen Geheimnis, das wie ein erstickender Schatten über dem Leben ihrer Mutter lag ...
(Extract)
WAHRHEIT
Dies sind die Dinge, von denen ich weiß, dass sie wahr sind:
Mein Name ist LuLing Liu Young. Die Namen meiner Ehemänner lauteten Pan Kai Jing und Edwin Young, sie beide sind tot und unsere Geheimnisse mit ihnen verschwunden. Meine Tochter heißt Ruth Luyi Young. Sie wurde in einem Wasserdrachenjahr geboren und ich in einem Feuerdrachenjahr. Wir sind also das Gleiche, aber aus entgegengesetzten Gründen.
All das weiß ich, doch gibt es einen Namen, an den ich mich nicht erinnere. Er liegt in der ältesten Schicht meines Gedächtnisses begraben, und es gelingt mir nicht, ihn freizulegen. Hundertmal habe ich mir den Morgen zurückgerufen, an dem Liebste Tante ihn aufgeschrieben hat. Damals war ich zwar erst sechs, aber schon sehr klug. Ich konnte zählen. Ich konnte lesen. Ich konnte mir alles gut merken. Hier also meine Erinnerung an diesen Wintermorgen.
Schläfrig lag ich noch auf dem k'ang, dem Bett aus Ziegelsteinen, das ich mit Liebster Tante teilte. Der Warmluftkanal zu unserem kleinen Zimmer war derjenige, der am weitesten vom Ofen im Gemeinschaftsraum entfernt war, und die Ziegel unter mir waren längst kalt geworden. Jemand rüttelte mich an der Schulter. Als ich die Augen aufschlug, schrieb Liebste Tante etwas auf ein Stück Papier und zeigte mir dann, was sie geschrieben hatte. "Ich kann nichts erkennen", klagte ich. "Es ist zu dunkel."
Sie schnaubte, legte das Papier auf den niedrigen Schrank und bedeutete mir aufzustehen. Sie zündete das Kohlenfeuer für den Teekessel an und band sich, als es anfing zu rauchen, einen Schal um Nase und Mund. Sie goss Waschwasser in den Teekessel, und als es kochte, begann unser Tag richtig. Sie schrubbte mir Gesicht und Ohren. Sie scheitelte mir das Haar und kämmte den Pony. Sie feuchtete die Strähnen an, die wie Spinnenbeine abstanden, und drückte sie fest. Dann teilte sie die langen Haare und flocht mir zwei Zöpfe. Oben band sie eine rote Schleife herum, unten eine grüne. Ich schüttelte den Kopf, sodass meine Zöpfe wie die munteren Ohren von Palasthunden tanzten. Und Liebste Tante schnüffelte, als wäre auch sie ein Hund, der sich fragte: Was riecht denn hier so gut? Mit diesem Schnüffeln sagte sie meinen Spitznamen, Hündchen. Es war ihre Art zu sprechen.
Sie hatte keine Stimme, sondern konnte nur keuchen und fauchen, ein Pfeifen wie ein rauer Wind. Wenn sie mit mir sprach, sagte sie es mit Grimassen und Ächzen, mit tanzenden Augenbrauen und schnellen Blicken. Auf meiner kleinen Kreidetafel schrieb sie über alles in der Welt. Mit ihren geschwärzten Händen machte sie auch Bilder. Handsprache, Gesichtssprache und Kreidesprache, das waren die Sprachen, mit denen ich aufwuchs, tonlos und streng.
Während sie sich die Haare fest um den Kopf schlang, spielte ich mit ihrer Schatzkiste. Ich nahm einen hübschen Kamm aus Elfenbein heraus, in den rechts und links ein Hahn eingeschnitzt war. Liebste Tante war im Jahr des Hahns geboren. "Trag den", forderte ich sie auf und hielt ihn hoch. "Hübsch." Ich war noch jung genug, zu glauben, dass Schönheit von Dingen kam, und ich wollte, dass Mutter sie Schal herunter, deutete auf ihr Gesicht und runzelte die Brauen. Was nützt mir etwas Schönes?, sagte sie.
Ihr Pony fiel ihr auf die Augenbrauen, wie bei mir. Das restliche Haar war zu einem Knoten zusammengebunden, der mit einer silbernen Nadel festgesteckt war. Sie hatte eine Pfirsichstirn, weit auseinander liegende Augen und volle Wangen, die sich zu einer kleinen, runden Nase verjüngten. Das war der obere Teil ihres Gesichts. Dann kam der untere.
Sie ließ ihre geschwärzten Fingerspitzen wackeln wie hungrige Flammen. Sieh, was das Feuer getan hat.
Ich fand sie nicht hässlich, ganz im Gegensatz zu anderen in unserer Familie. "Aiya, bei ihrem Anblick würde sogar ein Dämon einen Schreck bekommen", hörte ich Mutter einmal sagen. Als ich klein war, fuhr ich Liebster Tante gerne mit den Fingern über den Mund. Er war ein Rätsel für mich. Die eine Hälfte war